Eisrose
For Eve
Die Hügel und Täler sind von einer hauchdünnen Schicht glitzernden Schnees überzuckert. Ein leichter Windstoß wirbelt ihn auf und lässt die Flocken einen tollkühnen Tanz vollführen. Langsam sinken sie wieder zu Boden und begraben die Spuren einer Katze, die den Weg kreuzen, unter sich.
Größer und weitaus deutlicher sind die Spuren, die die Stiefel des Mannes im Schnee hinterlassen, der mit weit ausholenden Schritten durch die Winterlandschaft stapft. Der Blick aus meerblauen Augen ist auf den Horizont gerichtet, der in Schleiern aus Schnee verschwimmt. Mit sich trägt er den salzigen Geruch des Meeres. Er scheint von weither gekommen zu sein. Was sein Ziel ist, vermag er selbst nicht mehr zu sagen. Er vermutet es jenseits des Horizonts. Doch der Horizont wandert stetig und im Gleichmaß seiner Schritte weiter.
Würde jemand auf die Idee kommen, ihn zu fragen, was ihn gerade bewegt, so würde er antworten, dass er der Stimme folgt, die aus seinem Herzen kommt. Doch wenn er den Kopf hebt, um ihr zu lauschen, so verklingt sie immer mehr, bis kein Ton mehr zu vernehmen ist. Manchmal ist sie nicht mehr als ein Flüstern, das ihm so unwirklich scheint wie eine Geisterstimme aus dem Nichts. Doch aufzugeben würde bedeuten, den Glauben zu verlieren, den Glauben an das Glück, die Liebe oder was immer ihm die Stimme auch zu versprechen scheint. So zieht er weiter durch die verschneite Winterlandschaft, setzt Fuß vor Fuß, spürt dabei die Angst im Nacken, die süße Sirenenstimme könnte für immer verstummen. Die Stimme war ihm Kompass, dem er folgte, getrieben, unstetig, manchmal planlos, aber stets voller Leidenschaft. Wirft er seinen Anker zu früh aus, käme er nie mehr von der Stelle. Er würde versinken im blassen Nichts des Daseins und nichts als bunt schillernde Seifenblasen in seinen Händen zerplatzen sehen.
Der frostige Atem des Windes, der übers Land weht, lässt Bäume, Pflanzen und Gräser in klirrender Eiseskälte erstarren, die Tiere in Wald und Flur suchen Schutz in ihren Höhlen, die Katzen rekeln sich verschlafen auf den Kaminen ihrer Menschen. Im Herzen des einsamen Wanderers brennt das Feuer einer Leidenschaft, dessen Ursprung er zu kennen glaubt. Manchmal aber scheint ihm, als narre ihn nur ein Elmsfeuer. Es hilft ihm immerhin, die Kälte des frostigen Abends vergessen zu machen.
Was ihm vorkommt wie ein gemauerter Brunnen, der weit in die Tiefe reicht, ist jenseits der Wahrnehmung seiner Wirklichkeit ein aus Steinen gemauerter Turm, der sich hoch in den Himmel erhebt. Er braucht nur den Schritt über die unsichtbare Grenze zu tun, um den Widerstand aus festem Stein mit seinen Händen zu fühlen. Und zu erkennen, dieser Turm ist wie eine unüberwindliche Festung. Es führt kein Weg daran vorbei.
Der Wind webt ein dichtes Gespinst aus Schneeflocken, als der Mann der Mauer auf der Suche nach einem Eingang folgt. Er ist nicht allein. Ein endloser Zug von Schatten, gehüllt in Schauer aus Schnee, bewegt sich ihm entgegen. Die Gesichter sind nicht voneinander zu unterscheiden, der Einzelne verschmilzt mit der Masse.
All die Menschen bewegen sich in der entgegengesetzten Richtung. Die Versuchung unseres Freundes, dessen Weg wir eine Weile begleiten dürfen, kehrtzumachen und sich der Masse anzuschließen, ist groß. Was alle tun – heißt es nicht so? – ist richtig.
Doch er hat in all den Jahren seines Lebens seinen Weg selbst bestimmt, er war derjenige, auf dessen Wort die Mannschaft seines Schiffes hörte, auf dessen Wort sie sich verließ. Das Leben war sein Kompass. Die Masse der gesichtslosen Schatten zieht weiter ungerührt an ihm vorbei.
Er vernimmt das Singen von Vögeln und das Zirpen von Grillen von jenseits der Mauer. Und da ist noch etwas anderes – der Klang eines Liedes, seltsam vertraut, doch nie gehört. Der Gesang der Sirenen. Wer ist ihm je entkommen? Die Worte des Liedes gelten ihm, sie rufen ihn. Das haben Sirenen so an sich. Ihnen zu widerstehen ist unmöglich. Er schreitet an der Mauer entlang, gegen den Strom der gesichtslosen Schatten. Seine Hoffnung ist groß, ihm scheint, er war dem Glück noch nie so nahe gewesen. Doch es führt kein Weg hinein in die Welt jenseits der Mauer. Fest gefügt ist ein jeder Stein am anderen, fest verschlossen das wehrhafte Tor aus Metall. Und an einem Punkt seiner Wanderung muss er feststellen, dass er an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt ist. Ein Turm wie dieser mag hoch und groß sein, doch er ist auch rund.
Zu seinen Füßen entdeckt er sie, wie ein geheimes Zeichen aus der geheimnisvollen Welt hinter der Turmmauer – eine Rose rot wie Blut. Aber als er sie aufhebt, ist der Schmerz groß. Die Blume ist gefangen in einem Panzer aus Eis. Das Eis, so wird ihm schnell bewusst, bewahrt ihre Schönheit, aber ihr Herz ist erfroren. Erschöpft sinkt der alte Seebär zu Boden. Er lehnt den Rücken an den kalten Stein. Schützend hält er beide Hände um die Rose. Sie weckt die Erinnerung an einen Traum, an einen Traum von Liebe. Da ihm nichts anderes bleibt, wird er die Rose in seinem Herzen tragen. Sie soll ihn gemahnen an so viele verpasste Gelegenheiten, an Fehler, an Zweifel, an Ängste und an so viele Wege, die ihn zu keinem Ziel führten.
Die Rose ist ihm verblieben. Er drückt die Eisblume an sein Herz. Er fühlt den tiefen Schmerz, als der eisige Panzer zu schmelzen beginnt. Die Tropfen nässen seine Jacke. Bald wird sie zwischen seinen Händen zu Staub zerfallen und mit ihr wird er die letzte Erinnerung an seinen Traum verlieren. Der Wind häuft den Schnee um ihn herum auf, eine weiße Decke legt sich frostig um seine Beine. Doch ihm ist nicht kalt in dieser Winterwelt. Die Rose an seinem Herzen ist aufgetaut. Sie erblüht in blutroter Pracht und spendet ihm die Wärme des vergangenen und des kommenden Sommers. Keiner von all den Schatten, die in beängstigender Gleichförmigkeit durch den beginnenden Morgen schreiten, nimmt wahr, was mit dem einsamen Wanderer geschieht. Seine Hand berührt den kalten Stein der Mauer. Der Stein wackelt, er bröckelt, er bricht heraus, er fällt zu Boden und zerbricht in tausend Teile. Ein zweiter folgt, ein dritter und ein vierter. Seine Hände schützen den Kelch der Rose, die er noch immer fest an sein Herz drückt. Die Öffnung in der Mauer gewährt ihm einen Blick in eine Welt voller Sonnenschein und blühender Blumen, von vorwitzigen Schmetterlingen umschwärmt. Diese Welt ist erfüllt von singenden Vögeln, Teppichen aus weichem, grünem Gras, Bäumen mit mächtigen Kronen, die Schatten spenden. Ein Bächlein, das munter durch die Landschaft sprudelt wird überspannt vom Bogen einer hölzernen Brücke. Er öffnet die Augen weit, um alles wahrzunehmen, den Glanz, die Wärme und die Farben dieser Welt, von der er glaubte, sie existiere nur in seiner Fantasie. Und er erkennt, die Mauer, die ihm so lange den Zutritt in diese Welt verwehrte, umschloss einzig und allein sein Herz. Große Stücke brechen nun heraus, lassen ihn begreifen, was Freiheit und was Liebe ist. Er stellt keine Fragen mehr, er sieht nicht mehr die Zweifel, die in ihm nagen, er folgt blind der verlockenden Stimme, die noch immer diese himmlische Melodie singt und ihm verspricht, wonach er sich so lange schon sehnte …
Eine Flut von Sonnenlicht bricht durch die Öffnung in der Mauer, vor ihm ein wogendes Meer von Blumen. Ein Schleier trübt noch den Blick auf das, was vor ihm liegt, aber er wagt beherzt den Schritt aus seiner Winterwelt in den Sonnenschein. Eine Hand streckt sich ihm entgegen, er wird sich die Chance, sie zu ergreifen, nicht entgehen lassen.
Geblendet schließt er die Augen vor all der Pracht, ein warmer Duft von Sommer, von Blumen und Liebe schlägt ihm entgegen. Er vertraut der Hand, die ihn führt, er folgt ihr blind …
© Text und Fotos Eberhard Leucht
Das hab ich gern gelesen.:-)
By: Arabella on 16. Dezember 2015
at 13:04