Leseprobe

Die folgende Kurzgeschichte wurde in der Zeitschrift Kurzgeschichten Ausgabe 2/05 veröffentlicht.

HERAUSFORDERUNG

An der Bergstation angekommen, spuckte die Gondel der Drahtseilbahn die bunte Schar der Wintersportler aus. Fabian Hertel ließ die lärmende Menge an sich vorüberziehen, ehe er seine Skier anschnallte und sich auf den Weg machte. Er folgte der Loipe den sacht ansteigenden Hang hinauf, die Stimmen und das Lachen der anderen Skifahrer verklangen langsam in der Ferne. Er wollte allein sein, hielt den Blick gesenkt, so dass er nicht einmal das beeindruckende Panorama der verschneiten Winterlandschaft vor dem hohen Bergmassiv wahrnahm.
„Verlassen Sie nicht die gekennzeichneten Wege“, sprach der Mann, der vor dem eingeschneiten Wohnhäuschen neben der Bergstation stand, zu ihm. Er trug eine Fellmütze, hatte einen dichten, silbergrauen Bart und aus der Pfeife, die er locker zwischen seinen Zähnen hielt, kräuselten sich blaue Wölkchen in die klare Luft.
Fabian hatte die gleichen Worte schon einmal gehört, vor genau einem Jahr, an der gleichen Stelle. Nur der Mann war ein anderer gewesen, ein kleiner, gedrungener Typ mit runden Schweinsäuglein. Er erinnerte sich noch ganz genau an ihn. Fabian Hertel nickte dem Alten zu und stieß sich kräftig auf seinen Stöcken ab. Er folgte den gekennzeichneten Wegen. Bis zu einer bestimmten Stelle. Dort verließ er die Loipe und fuhr einen leicht abfallenden Hang hinab, zwei oder drei Kilometer vielleicht. Neben einem schneebedeckten Felsvorsprung blieb er stehen. Ein steiler Abhang führte hier ins Tal hinab, eine wahre Herausforderung für jeden erfahrenen, abenteuerlustigen Skifahrer. Hier war er ganz allein mit der Natur, viel zu weit von der Piste entfernt, als dass ihm jemand zu Hilfe kommen könnte, falls ihm etwas zustieß. Trotzig kehrte Fabian Hertel dem Felsmassiv, dass sich weiß und glitzernd wie eine Kathedrale aus Schnee und Eis in den strahlend blauen Himmel erhob, den Rücken zu. Er zögerte keinen Augenblick, die nicht ungefährliche Abfahrt den Steilhang hinab zu wagen.
Ein Jahr zuvor, genau an der gleichen Stelle, hatte Fabian gezögert. Da war er nicht allein gewesen, Sandra – er hatte sich mit seiner hübschen, braunhaarigen Freundin während des Winterurlaubs verloben wollen – war begeistert von dieser Abfahrt, fasziniert von dem wundervollen Blick hinab ins Tal. Fabian hatte all seine Bedenken geäußert, seine Sorge, seine Angst, diesen riskanten Weg ins Tal zu nehmen, in einer Gegend, in der er sich nicht auskannte, vor der die Einheimischen ihn und Sandra gewarnt hatten. Sie hatte ihn auf diese Art angesehen, mit der sie ihm stets zu verstehen geben wollte, was sie von seiner bedenkenträgerischen Beamtenmiene hielt, wenn er lange und ausführlich Für und Wider gewisser Dinge abwog. Sie hatte es kaum erwarten können, sich kopfüber in das Abenteuer Abfahrt zu stürzen. Sandra war spontaner als er. Ja, was konnte denn schon passieren? Sandra war eine erfahrene Skiläuferin, sie würde ganz einfach nur eher im Tal sein als er. Dort würde sie auf ihn warten und ihn nicht einmal auslachen, wenn er viel später eintraf als sie. Fabian hatte noch gesehen, wie sie sich auf den Stöcken abstieß und den Abhang hinabschoss. Was blieb ihm anderes übrig, als ihr zu folgen, langsamer zwar, aber sicherer. Und trotzdem hatte Fabian gezögert. Er hatte ein Geräusch vernommen, das irgendwie aus dem Berg zu kommen schien, dunkel, wie ein weit entferntes Grollen. Er hatte es sich nicht erklären können, aber es hatte ihm Angst gemacht.
Und heute raste Fabian allein den steilen Abhang hinab, ohne Angst, ohne Bedenken. Er fühlte überhaupt nichts, sah einfach nur das Tal immer näher kommen, in dem die rasante Skifahrt ein Ende finden sollte.
Fabian Hertel atmete schwer, es war geschafft, nichts war geschehen. Linker Hand, einen knappen Kilometer entfernt, befand sich das Dörfchen, in dem er eine Herberge gefunden hatte. Er sah die Bilder des vergangenen Jahres vor sich, als wäre das alles gerade eben erst geschehen, er sah, wie sich dieser mächtige Schneebrocken knapp unterhalb des Gipfels des Berges, der das Tal von der linken Seite begrenzte, löste und langsam, wie in Zeitlupe, herabstürzte, dabei immer größere Schneemassen mit sich riss.
„Sandra!“, hatte Fabian aus Leibeskräften geschrien, doch sein Ruf ging im Getöse der Lawine unter. Sandra war auf einmal nur noch ein kleiner, dunkler Fleck gewesen, der im Weiß der herabstürzenden Schneemassen verschwand.

Fabian lehnte die Skier an den niedrigen Gartenzaun und betrat den kleinen, hinter der Kirche gelegenen Friedhof. Ein schlichtes Holzkreuz mit einem Namen und zwei Jahreszahlen war das einzige, was an Sandra erinnerte.
Zornig wandte sich Fabian um. Kalt und teilnahmslos blickten die Berge auf das kleine Menschlein im Tal herab, die schneebedeckten Gipfel strahlten im hellen Sonnenschein, nichts störte das Bild der winterlichen Idylle. Die Landschaft, die Natur waren wunderschön, und grausam.

Antworten

  1. Eine schöne aber traurige Geschichte!
    Vielleicht magst du ja auch mal bei mir vorbeischauen! (:


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