Kaum hatte ich das Häuschen erreicht, kehrte auch schon die siebenköpfige Zwergenbande zurück, singend, wie man weiß. Sie sahen die Bescherung, wussten auch sofort, wer für Schneewittchens bedauerlichen Zustand verantwortlich war.
„Aber, ich …“, versuchte ich zu erklären. Aber weiter kam ich nicht. Man jagte mich laut schreiend und mit schwingenden Knüppeln davon.
Ja, das war zweifellos der Tiefpunkt meines neuen Lebens außerhalb des Zwergenhauses. Ich verkroch mich tagelang in meiner Höhle. Tränen rannen über meinen Bart. Seitdem wagte ich mich nicht mehr in die Nähe des Hauses. Sollten die Sieben doch glücklich werden mit dieser … (Die gute Erziehung im Zwergenhaus verbietet mir, das Schimpfwort, welches ich still in meinem Geiste benutzte, hier niederzuschreiben. Es lebe die Selbstzensur.)
Ich hielt mich auch vom Haus fern, als ich einige Tage später wieder ein verdächtiges Individuum durch den Wald schleichen sah. Soll doch werden, was will, übte ich mich in Fatalismus und fuhr fort, ein weiteres Waldbild zu kolorieren.
Es kam natürlich, wie es kommen musste. Diese Dummköpfe waren nicht in der Lage, jemanden, der sich ihrer Obhut anvertraut hatte, vor den wirklichen, vor ernsthaften Gefahren zu schützen. Klar, ich empfand ehrliche Trauer, als ich mitbekam, dass das Mädchen nicht mehr unter den Lebenden weilte, andererseits konnte Schadenfreude, selbst in äußerst geringen Dosen, ein erhebendes Gefühl sein. Glaubt es oder glaubt es nicht. Leider war es mir zu diesem Zeitpunkt nicht gelungen, die Ursache für Schneewittchens Ableben in Erfahrung zu bringen.
Das Spektakel von Schneewittchens Beerdigung wollte ich mir aber auf keinen Fall entgehen lassen. Aus sicherer Entfernung, denn es war nicht auszuschließen, dass die sieben Dummköpfe mich für den Schuldigen am Tod des Mädchens hielten. Eine hohe Eiche mit dichtem, grünen Laub diente mir als Beobachtungsposten. Kam hatte ich hoch oben Stellung bezogen, näherte sich auch schon der traurige Zug. Ja, da hilft alles Flennen nichts, sprach ich in Gedanken zu den Zwergen, ihr hättet eben besser aufpassen sollen. Der Sarg, wie jedermann weiß, aus Glas hergestellt, glitzerte im grellen Sonnenlicht. Da hatten sich die Jungs ja wirklich Mühe gegeben, musste ich neidlos anerkennen. Ein plötzliches verdächtiges Knacken unter meinem Hintern unterbrach meine weiteren Gedanken. Nein! Nein! Nein!
Zu spät. Ich konnte mich nirgends festhalten. Der Ast, auf dem ich es mir gemütlich gemacht hatte, brach und ich stürzte unter lautem Getöse in die Tiefe.
Wenn ich dachte, dass es wirklich nicht schlimmer kommen konnte, so hatte ich mich gründlich geirrt. Denn ich landete mitten auf dem gläsernen Sarg, in dem das Mädchen lag. Die sieben mehr oder weniger tapferen Träger konnten den Sarg nicht länger halten. Er krachte zu Boden. Es gab einen gewaltigen Rums. Glas splitterte.
„Du Vollidiot!“, war noch eines der harmlosesten Schimpfwörter, die mir an den Kopf geworfen wurden. Also nichts wie weg! Das war mein einziger Gedanke inmitten des Chaos, das ich da angerichtet hatte.
Doch ich konnte nicht davonlaufen. Etwas hielt mich fest, zog mich sogar zu Boden. Mädchenarme hielten mich umschlungen.
„Schneewittchen!“
Sie war tatsächlich wieder erwacht!
Solche Sachen passieren eben nur in wahren Märchen. Als der Sarg zu Boden krachte, hatte sich das Stückchen vergifteter Apfel in Schneewittchens Kehle gelöst, worauf sie es in hohem Bogen ausspuckte. Auf diese Weise kehrte sie zu unser aller Freude ins Leben zurück.
Ja, Leute, was soll ich sagen? Am Ende hat Schneewittchen mich geheiratet, den achten Zwerg, und nicht etwa irgendeinen albernen Prinzen aus fernem Königreich. Und das bestimmt nicht nur aus Dankbarkeit.
Ins Zwergenhaus zogen wir zwei nicht mehr. Ich hatte die Demütigung des Rauswurfs nie überwunden. Außerdem wusste man inzwischen ja, was bei solchen Dummköpfen, selbst wenn es sieben an der Zahl waren, passieren konnte. Großzügigerweise lud ich meine ehemaligen Gefährten zur Hochzeit ein. Man ist ja kein Unmensch. Außerdem konnten sich die Jungs bei der Gelegenheit ein bisschen nützlich machen.
Die böse Stiefmutter wurde samt des vorwitzigen Spiegels aus dem Land gejagt und ist zuletzt in weiter Ferne als Asylsuchende gesichtet worden. Äpfel wurden aus Gründen der Sicherheit aber von unserem Speiseplan gestrichen.
Ja, Freunde, genauso ist es passiert. Solltet ihr etwas anderes über Schneewittchen und ihr Leben mit den sieben Zwergen gehört haben, so könnt ihr sicher sein, dass es sich dabei um nichts anderes als ein Märchen handelt. Und wenn die Märchenerzähler nicht gestorben sind, denn leben sie noch heute und tischen den Menschen weiter Fake News und alternative Fakten auf, denen viele Leute andächtig lauschen.
© Eberhard Leucht