Posted by: eleucht | 19. November 2019

„Evangelio“ – Feridun Zaimoglu

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Evangelio 001Martin Luther, der auf Geheiß des Kurfürsten von Sachsen als Junker Jörg auf der Wartburg lebt, kann seine wahre Identität nur schwer verbergen. Viel zu streitbar ist der Reformator, er ist ein Kämpfer vor dem Herrn, ein Kämpfer für den neuen Glauben, der die Menschen vom Ablasshandel befreien soll. Viel zu leidenschaftlich ist er in seinem Kampf gegen die Kirche Roms und das Papsttum, deren Vertreter er in Sünde leben sieht, die lügen und betrügen und das Volk ausbeuten. Viel zu streng ist er in seinem Glauben gegen sich selbst und die anderen.

Erzählt wird in diesem Roman die Geschichte von Luthers Zeit auf der Wartburg aus der Sicht des Landsknechts Burkhard, der dem Geistlichen zu dessen Schutz zur Seite gestellt ist. Dieser Landsknecht ist ein überzeugter Anhänger des katholischen Glaubens. Aber das Kriegshandwerk ist seine Berufung und er schwor dem Kurfürsten Treue. So tut er alles, um das Leben des „Ketzers“, wie er Luther in seiner Erzählung nennt, zu schützen.

Der Roman ist mit der biblischen Wortgewalt Luthers geschrieben. Roh, doch gleichermaßen bildhaft ist die Sprache des Landsknechts, wenn er von seinem Leben auf der Wartburg berichtet, von den Begegnungen mit Luther und den einfachen Menschen in Eisenach. Man erlebt Luther oftmals als einen Eiferer für seinen Glauben, der sich ständig den Anfechtungen des Erzfeindes der Menschen, des Satans, ausgesetzt sieht. Es kostet ihm seine ganze Kraft, dagegen anzukämpfen. Man erlebt aber auch einen Luther, der die Juden hasst und auf gleiche Weise die aufständischen Bauern, die sich dem Theologen und früheren Lutherbewunderer Thomas Müntzer anschließen. Denn im Volk gärt es, die Bauern lehnen sich auf, ziehen ins Feld gegen Kirche und Adel. Für Luther ist die Obrigkeit aber gottgegeben.

Der Autor zeichnet ein vielschichtiges Porträt des großen Reformators, das ihn tief verwurzelt in seiner Zeit zeigt, die er dank der wortgewaltigen Sprache, die auf viele, längst in Vergessenheit geratene Begriffe zurückgreift, vor den Augen des Lesers wiederauferstehen lässt. Luther wird in diesem Roman nicht zu einem Monument und auch nicht zu einem Denkmal verklärt, er ist ein Mensch seiner Zeit, von Liebe zu den Menschen ergriffen, von Zweifeln zerfressen, mit Fehlern behaftet und auch angreifbar, ein Mensch, der sieht, der glaubt, der für seine Ideale eintritt und kämpft und auch der ständigen Versuchung ausgesetzt ist. Und oft genug ist der katholisch geprägte Landsknecht und Erzähler Burkhard versucht, dem Ketzer und seinen Ansichten recht zu geben, vor allem dann, wenn die menschlichen Aspekte ihrer beiden Glauben offensichtlich gar nicht so weit auseinanderliegen.


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