Posted by: eleucht | 8. Mai 2017

Die Taverne am Ende der Zeit

Hof Heimwehpark 008Die Taverne am Ende der Zeit

For Eve

Eine Mauer, sie sperrt ein, sie sperrt aus, sie schützt. Sie ist Teil der Zwischenwelt, die sich nur denen erschließt, die zu sehen verstehen. Mit dem Herzen.

Der alte Seemann versteht die Sprache des Herzens. Die Sehnsucht ist groß und er weiß, jenseits der Mauer wird sie Erfüllung finden.

In seinem Rücken der Ozean. Er scheint weit weg zu sein. Doch das Rauschen des Meeres in seinen Ohren wird ihn wohl nie mehr verlassen. Auf den Wellen schaukelt sein stolzes Schiff. Er weiß auch, das Meer ist kalt und ein bodenloser Abgrund. Er möchte ihm entkommen. Weil die Sehnsucht nach der Wärme und der Geborgenheit in den Armen der geliebten Frau viel mächtiger ist und seine Schritte lenkt. Durch die Nacht, die erfüllt ist von fröhlicher Musik und ausgelassenem Lachen.

Gerade noch neigten Rosenblüten ihre Köpfe vor ihm und ihr, gerade noch neckten Schmetterlinge sie beide mit buntem Flügelschlag, als wollten sie sagen: Seht her, ich bin der Schönste von allen. Und der alte Seemann wusste, jeder Einzelne hatte recht. Doch er, der Kapitän, hatte ein Date mit der wahren Schönheit, der Schönheit, die jeder Liebende in seinem Herzen trägt. Sie beide hatten im weichen Moos im Schatten der hohen Zypressen gelegen, geschützt von der Magie des geheimen Gartens. Weiche fließende Gewänder umschmeichelten den zartgliedrigen Körper der Frau, der so lange seine Fantasie erhitzt hatte. Endlich besaß er, wovon er so lange geträumt hatte. Einen endlosen Augenblick lang vernahm er einzig das Rauschen des Blutes, das in ihren Adern pulste. Er wollte diesen Augenblick für immer festhalten, mit ihm in die Ewigkeit enteilen, um für immer vom süßen Nektar der Liebe zu kosten.

Plötzlich aber fand er sich im Schatten der Zwischenwelt wieder, an der Mauer, die das Heute vom Morgen trennt. Das Leben geht oft seltsame Wege. Er dreht dem Meer den Rücken zu, doch es will nicht weichen. Das penetrante Rauschen ist das Hintergrundgeräusch seines Lebens.

Trunkener Lärm weht ihm entgegen. Blasses Licht fällt aus den kleinen, fast blinden Fenstern der Taverne. Der Kapitän bewegt sich darauf zu. Oder bewegt sie sich auf ihn zu? Das infernalische Trommeln und Flöten und die feurigen Gesänge stoßen ihn ab und ziehen ihn gleichermaßen an. Die Sehnsucht ruft ihn in die Arme seiner Liebe. Doch die Nacht schluckt die Umrisse der Mauer, bis sie ganz verschwindet und nur noch die verrufene Taverne am Ende der Zeit zurückbleibt. Das Leben geht oft seltsame Wege, wiederholt sich ein Gedanke in seinem Inneren, und manchmal geschieht es, dass die Wege plötzlich verschwinden oder sich dem Suchenden verschließen. Es bedarf magischer Worte, um sie wieder zu öffnen. Doch dem alten Kapitän, der nur die Sprache des Meeres kennt, ist die Magie fremd.

Das Licht aus der Taverne, der Lärm und die Musik vertreiben die Dunkelheit und die Stille der Nacht. Der Seemann kann dem Spektakel, das ihn hinter der Tür erwartet, nicht entgehen. Der Zeremonienmeister, der sich „Das wahre Leben nennt“, wirft ihn mitten hinein in die Masse der schwitzenden Leiber, die sich im Rhythmus der Musik wiegt, mitten hinein in das Johlen, Lachen und Schreien. Spärlich bekleidete Mädchen verteilen Getränke, deren man sich reichlich bedient. Der Getränke und der Mädchen. Der Kapitän wird vom Strom der Menge mitgerissen. Er ist mitten unter Menschen und gehört doch nicht zu ihnen.

Die scharfen und süßen Getränke bringen Vergessen in die Welt. Doch will der Kapitän denn vergessen? Vergessen würde bedeuten, seine Liebe zu opfern. Sich gegen den Lauf der Welt zu wehren, ist nicht einfach, doch er ist es gewöhnt und besitzt die Kraft, ein Schiff und seine Mannschaft auch in schwerstem Wetter zu beherrschen und zu steuern.

In der Taverne befinden sich viele Zimmer. Sie scheint im Inneren größer und weiträumiger zu sein, als man von außen vermuten würde. Die Menge, die ihn umspült wie die Brandung des stürmischen Meeres, reißt ihn mit sich und führt ihn in jedes einzelne dieser Zimmer, als würde diese Nacht niemals enden.

„Tritt ein!“ Die blonde Frau, gekleidet in sündig rote Spitze, öffnet dem Seemann die Tür in den ersten Raum, der getaucht ist in diffuses, warmes Licht. „Hier findest du für ein paar Goldstücke die Wonnen des Himmels mit den schönsten Frauen der Welt.“

Doch der Kapitän weiß, die schönste Frau der Welt, die Frau seiner Träume, findet er nicht an diesem Ort.

Der nächste Raum ist erfüllt von glitzerndem Gold. Münzen und Scheine wechseln in rasender Geschwindigkeit ihre Eigentümer. Hier gelten die Gesetze von Würfeln, Zahlen und Karten. „Hier kannst du ganz schnell reich werden“, flüstert eine verlockende Stimme in das linke Ohr des Kapitäns. „Oder alles verlieren“, warnt eine Stimme von der anderen Seite. Hier erwartet ihn der größte Nervenkitzel. Der Joker lächelt und zwinkert ihm verschwörerisch zu, die Kugel rollt und rollt entlang der kreisenden Zahlen zwischen rot und schwarz, zwischen gerade und ungerade. Doch ganz oben steht die Null. Der Glanz in den Augen derer, die den Lauf der Kugel verfolgen, ist kalt und ohne Liebe.

Doch da erwartet den Kapitän schon der Blick in das nächste Zimmer. In diesem herrscht Dunkelheit. Flüsternde Stimmen wehen ihm entgegen, so leise, dass er kein Wort zu verstehen vermag. Hier, wird ihm versprochen, kann er teilhaben an der Macht. Die Pläne, die hier geschmiedet werden, sind so geheim, dass kein Mensch je davon erfahren darf. Der Preis, den er zahlen muss, ist Schweigen.001Kronach

In scheinbar endloser Abfolge öffnen sich dem Seemann Türen in Räume voller Versprechen, Träume, Wünsche und Verlockungen, Räume, die erfüllt sind von Magie, vom Zauber weit entfernter Orte, die ihm Geheimnisse zu offenbaren scheinen und Wege ins Glück weisen. Doch da war nichts, das die Sehnsucht, die in seinem Herzen brennt, abkühlen konnte. Und als die Nacht zu Ende geht, findet er sich wieder im Zwielicht des anbrechenden Morgens. In seinem Rücken vernimmt er das Rauschen des Meeres, das Rollen der Brandung. Sein Schiff liegt im Hafen, sicher vertäut. Neben ihm erhebt sich eine Mauer in die morgendlichen Nebel.  Rosenköpfe strecken sich verschlafen den frühen Strahlen der Morgensonne entgegen und wecken eine Erinnerung in ihm. Eine sehnsuchtsvolle Melodie erklingt jenseits der Mauer. Sie scheint ihn zu rufen. Er weiß, er wird ihr folgen.


Antworten

  1. Was für eine zauberhafte, berührende Geschichte…

  2. Und ein Sternchen für Ritchie Blackmore 🌟 👍


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