Ein Sonntagmorgen unter einem bleischweren Himmel, der aussieht, als würde er jeden Augenblick platzen und die Welt unter Tonnen von Schnee begraben. Es ist einer dieser Tage, an denen man den Schnee förmlich in der Luft riechen kann.
Einsame Schritte inmitten des geschäftigen Treibens auf der Hauptstraße, stille Gedanken zwischen zornig hupenden Autos, schrillem Lachen und lauten Rufen. Festliche Musik wogt durch die Straßen und über Plätze und rührt das Herz. Man kann Augen und Ohren vor der Schönheit der Welt verschließen, aber nicht das Herz. Es nimmt die Schwingungen von Sehnsucht, Geborgenheit und froher Erwartung auf und leitet sie auf direktem Weg in die Seele. Manchmal gibt es kein Entkommen.
Manche Gassen sollte man meiden. Ihre Stille ist trügerisch. Niemand lacht dir hier ins Gesicht und selbst der abgemagerte Hund mit den trüben Augen und dem verklebten Fell wendet sich mürrisch von dir ab. Der Klang der Kirchenglocke dringt nur gedämpft in diesen Teil der Welt.
Hier aber befindet sich der Ort, an dem du Vergessen finden kannst. Und jemanden, der dir zuhören könnte, wenn du sprechen würdest. An diesem Ort ist die Luft geschwängert von Alkohol und Zigarettenrauch. Und auf den Tellern glänzen fettig Bohnen mit Speck.
Das Bier, das vor dir steht, ist längst schal. Du wendest den Kopf und sieht den Typen an der Jukebox. Er wirft einen Groschen ein und heißer Rock’n’Roll spült die letzten Klänge festlicher Musik, die sich an dein Bewusstsein krallen, hinweg.
Der Mann an der Jukebox dreht sich um, ein Glas mit einem bernsteinfarbenen Getränk in der Hand. Und da erkennst du dich selbst in ihm. Das bist du. Genauer gesagt, eine jüngere Ausgabe deiner selbst. Die Augen sind noch voller Hoffnung und Optimismus, nichts könnte dich je aufhalten. Selbstsicher sind die Züge in diesem Gesicht und das Lächeln auf den Lippen.
Du könntest jetzt aufstehen, deinem jüngerem Ich die Hand auf die Schulter legen und sagen: „He du, hör mal, es ist besser, wenn du jetzt nach Hause gehst. Das würde dich davor bewahren, einen großen Fehler zu machen.“
Was aber würde dein anderes Ich tun? Es wird wahrscheinlich deine Hand wegstoßen und unwirsch antworten: „Hau ab, Alter! Was weißt du schon!“
Dein jüngeres Ich kann nicht wissen, was es in späteren Jahren weiß. Du kennst das Schicksal, denn es ist das deine. Aber was würden deine klugen Worte ändern? Du kannst deine Vergangenheit nicht in Ketten legen. Du wirst nicht verhindern, dass dein früheres Ich in den Blicken dieser strahlend blauen Augen ertrinkt. Es wird mit dem Weihnachtsengel, der vom Himmel gefallen scheint, Rock’n’Roll tanzen und ihre Lippen auf den seinen fühlen. Sie wird dein jüngeres Ich bei der Hand nehmen und direkt in den siebten Himmel führen.
Wie lange wird das Glück währen? Wann wird der Tag kommen, an dem du aufwachst im kalten Zimmer, allein, mit kaltem Rauch und den Neigen einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in trüben Gläsern – und einem gebrochenen Herzen in deiner Brust. Niemand wird dein älteres Ich nach diesem Tag fragen.
Du stehst auf und weißt, das Schicksal lässt sich nicht korrigieren. Wege ins Unglück haben keine Wegweiser und es gibt keine Abzweigung auf den rechten Weg. Die gibt es nur in Hollywood. Das Bier in deinem Glas ist schal und wird in der Spüle enden.
Ein Windzug weht Kälte und Schneeflocken durch die geöffnete Tür. Jemand steht dir im Weg. Ein verführerisches Lächeln auf feucht glänzenden, leicht aufgeworfenen Lippen. Ein strahlender Blick aus blauen Augen trifft dich. Mitten ins Herz. Du glaubst den Boden unter den Füßen zu verlieren. Doch du brauchst keine Angst zu haben, ins Bodenlose zu fallen. Die Hand, die sich dir entgegenstreckt, hält dich fest und führt dich aus dem verrauchten Zwielicht ins Freie. Ihre Hand in der deinen fühlt sich warm und weich an. Was durch deinen Körper strömt, ist nicht nur wohlige Wärme. Es ist viel mehr. Es ist etwas, was sich nicht mit Worten beschreiben lässt. Verschwunden sind alle trüben Gedanken, alle Zweifel, alle Angst, als hätte es sie nie gegeben. Es ist, als wäre von einem Moment auf den anderen die Last der vielen Jahre von deinen Schultern abgefallen. In deinem Kopf mischen sich Rock’n’Roll und weihnachtliche Hymnen. Du sieht dein Spiegelbild im festlich geschmückten Schaufenster mitten auf der Hauptstraße. Du erkennst in deinen Augen den Rausch von Hoffnung, sie strahlen voller Optimismus, deine Gesichtszüge strotzen vor Selbstsicherheit und um deine Lippen spielt ein verliebtes Lächeln. Deine Haut ist glatt und bar aller Falten. Du bist zurückgekehrt in deine Vergangenheit. Es ist Heilig Abend und du bist nicht allein. Schneeflocken fallen sanft vom Himmel und tanzen vergnügt in der kalten Luft. Das Licht in deinem Herzen vertreibt die Dunkelheit aus der Welt. Die Zukunft ist unendlich weit entfernt …
Kommentar verfassen