For Eve
Die Welt war in Bewegung geraten, er wurde hochgeworfen in sonnige Höhen und abrupt wieder hinabgestoßen ins dunkle Verlies der Verzweiflung. Tag für Tag, Stunde um Stunde. Oder war es nur sein Leben, das außer Kontrolle geraten war, während sich die Welt in gewohnter Gleichförmigkeit weiterdrehte? Hier gab es keinen Kompass, der ihn durch die Untiefen und all die anderen Gefahren leitete. Er bewegte sich außerhalb seines Schiffes auf unsicherem Boden. Überall schienen Fallen zu lauern; Unebenheiten und unberechenbare Situationen brachten ihn leicht zu Fall. Das Gras, durch das ihn seine Schritte führen, war von der Sonne verbrannt. Die Luft glüht und nur die Disteln trotzen der Glut. Wespen und Bienen bedienen sich summend an ihren Blüten. Warum hatte er die schützenden Wände des Zimmers verlassen? Es hatte so gut getan, sich der Kühle des Raums hinzugeben und der aufkommenden Trägheit nachzugeben. Die Katze, die sich schnurrend auf seinen Beinen ausgestreckt hatte, ließ ihn alle Aufregung vergessen. Ihr Fell fühlte sich so wunderbar weich an. Doch da war der Ruf des Gartens gewesen, der ihn nicht ruhen ließ. Diesen Ruf konnte einzig sein Herz vernehmen. Dem alten Seemann war es nicht möglich, sich ihm zu entziehen. Er brauchte nur der Spur der Rosen zu folgen. Doch die Sonne hatte auch viele der roten, gelben und weißen Blüten verbrannt. Schwärme von Schmetterlingen stieben unter seinen Schritten auf. Vergnügt flattern sie um den Seemann herum, als wollten sie ihn auslachen, weil er die sicheren Planken seines Schiffes mit dem unsicheren Land getauscht hatte. Aber was wussten Schmetterlinge schon von den Herzensangelegenheiten eines Seemanns? Sie kennen nur ihr eigenes Vergnügen und tanzen mit den Sonnenstrahlen. Nein, die Schmetterlinge waren ihm keine Hilfe.
Der Garten nimmt ihn auf wie einen alten Bekannten, der er ja auch war. Er spendet dem Kapitän kühlenden Schatten unter den Kronen der Bäume. Das Rascheln der Blätter und das Säuseln des Windes sind nichts anderes als die Stimmen, die ihn willkommen heißen. Der kleine Weiher zu seinen Füßen strahlt eine beschauliche Ruhe aus. Es war, als schlucke das kleine Gewässer jeden Laut. Ein Goldfischlein streckt seinen Kopf aus dem Wasser, um den unerwarteten Besucher in Augenschein zu nehmen. Libellen mit zarten, gläsernen Flügeln schwirren wie Torpedos über die unbewegte Wasseroberfläche. Ein Frosch, versteckt im hohen Gras hinter den Binsen, verkündet laut quakend die Ankunft des Seemanns.
Haben sich die Libellen plötzlich in Riesenlibellen verwandelt oder war nur die Welt geschrumpft? Der Seemann findet sich plötzlich auf dem Rücken eines der bläulich schimmernden Insekten wieder. Mit wirbelten Flügelschlägen trägt ihn die Libelle über den Weiher. Ein weiteres Mal streckt ein Goldfisch seinen Kopf aus dem Wasser, als könne er nicht glauben, was er doch mit eigenen Augen sieht. Dem Seemann scheint es, als sei die Zeit stehen geblieben. Zwar bewegen sich die zerbrechlich wirkenden Flügel der Libelle auf und ab und wehen ihm heiße Luft ins Gesicht, aber das Insekt rührt sich nicht von der Stelle. Vor seinen Augen lichtet sich etwas, das ein Schleier, aber genauso gut auch ein Nebel sein könnte. Auf einer Terrasse vor dem Häuschen am anderen Ufer des Weihers, halb verborgen hinter den Binsen, hat sich ein Pärchen an einem Tisch niedergelassen. Ein Mann und eine Frau sitzen sich gegenüber. Zwischen zwei Gläsern, in denen roter Wein funkelt, reckt eine frisch geschnittene rote Rose in einer gläsernen Vase ihre prächtige Blüte in die Sonne. Dem alten Seemann kommen das Pärchen und die Situation seltsam vertraut vor, als hätte er sie vor gar nicht langer Zeit selbst erlebt. Obwohl die beiden ihre Gesichter nicht verbergen, ist es ihm unmöglich, sie zu erkennen. Der Seemann sieht jede Regung in den Gesichtszügen der beiden, trotzdem wirken sie auf unerklärliche Weise gesichtslos. Wie ätherische Wesen aus einer anderen Zeit.
Der Mann legt seine Hand auf den Arm der Frau. Die kleinen Härchen auf der Haut richten sich sichtbar auf. Zärtliches Streicheln und Blicke, die tief in den Augen des anderen versinken. Unausgesprochene Worte der Liebe, die ihren Widerhall finden in einer Melodie, die über den Weiher weht. Eine samtige Stimme singt: „You‘re mine and we belong together. Yes, we belong together for eternity“.
Die Blicke, in denen das Feuer der Leidenschaft lodert, bestätigen jedes einzelne dieser Worte.
Doch was wird geschehen, wenn die Musik verklingt und sich Schweigen über die Idylle dieses Ortes senkt, wenn die Träume verblassen und die Wünsche und Versprechen an der Wirklichkeit zerbrechen? So wie das Rot der Rose im Strom der Zeit verblasst und ihre Blütenblätter welken und schließlich zu Boden fallen. Bleibt im kalten Licht des Tages nur die Erkenntnis übrig, dass die Vergänglichkeit das Leben und die Liebe frisst und nichts anderes ausspeit als Hoffnung, an die sich die braven Menschen klammern? Ein Windzug weht ein welkes Rosenblütenblatt vom Tisch. Es tanzt zitternd in der Luft und landet schließlich sanft auf der Oberfläche des Weihers, umschwirrt von Mücken und Libellen.
Allein bleibt der Seemann zurück. Die Illusion, die er gerade noch mit bebendem Herzen bewundert hat, löst sich im Nichts auf. Ihm wird bewusst, dass sie nichts anderes gewesen war als eine Projektion seiner eigenen Wünsche und Träume in die flirrende, heiße Luft eines Sommertages. Seine Schritte rascheln im verbrannten Laub. Die Sonne wirft bereits lange Schatten. Bald wird sie hinterm Horizont versinken. So wie das Lied verklingt und die letzte Note ins Nichts entschwindet. Die große Leere verschlingt Lieder, Rosen, Schmetterlinge, Träume, Wünsche und Hoffnungen. Fahl sind Licht und Schatten. Eine Frage taucht am weit entfernten Horizont auf: Wird die Liebe die Ewigkeit überstehen? Hoffnung wiegt sich schwerelos im Wind wie die Blätter eines Baumes, auf denen die Träume und Wünsche geschrieben sind. Jedes einzelne Blatt ein Teil eines großen Ganzen. Doch was, wenn im Herbst der Wind all die Hoffnungen und Träume wie Blätter von den Bäumen reißt und der Herbststurm mit ihnen spielt und sie schließlich auseinandertreibt? Was bleibt von der Glut des Sommers, wenn nicht das Herz sie bewahrt und einschließt und beschützt vor der eisigen Kralle, die der nahe Winter bereits in manchen kalten Herbstnächten ausstreckt?
Manchmal fallen die Schritte schwer, manchmal weiß man nicht, wohin sie führen. Der Seemann aber tut sie, einen nach dem anderen. Irgendwo steht sein Schiff abgetakelt in einem Hafen. Vielleicht genießt die Mannschaft die lange Ruhe. An einer anderen Stelle wartet die Liebe. Der Seemann verfolgt noch immer ihre Spur und weiß doch, das Ziel ist ungewiss. Das Feuer in seinem Herzen ist ein Leuchtfeuer, an dem er sich orientiert und das ihn gleichzeitig wärmt in den langen, kalten Nächten. Noch einmal küssen Sonnenstrahlen seine Haut, bevor die Nacht ihr samtig schwarzes Gewand über die Welt wirft.