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Karel Poláček zählt neben Karel Čapek und Jaroslav Hašek zu den bekanntesten tschechischen Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts. In Deutschland ist er weitgehend unbekannt, was recht bedauerlich ist. Der Roman „Die Bezirksstadt“ ist Teil einer Pentalogie und wurde erstmalig 1936 veröffentlicht. Darin schildert der Autor mit leisen Tönen und feiner Ironie das bürgerliche Leben in einer tschechischen Kleinstadt in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Man geht davon aus, dass es sich bei dieser Stadt um seine Geburtsstadt Rychnov nad Knĕžnou handelt. Die Bürger, die der Autor in seiner Geschichte beschreibt, darf man durchaus als Stereotype verstehen. Da ist zum Beispiel die Familie Štĕdrý, der Familienvater ist Kaufmann und Besitzer eines altehrwürdigen Geschäfts, an dem die neue Zeit spurlos vorübergegangen ist. Das wird am Beispiel des Sohnes Kamil deutlich, der in einer Großstadt das Leben von einer anderen Seite kennengelernt hat und dank des Fortschritts das Geschäft seines Lebens macht. Über die Kulturlosigkeit des Spießertums seiner Heimatstadt rümpft er nur überheblich die Nase. Nur der jüngere Sohn, der Student, findet beim alten Kaufmann Anerkennung. Der dritte Sohn, Viktor, ist Arbeiter und und zieht in seiner freien Zeit mit Freunden und Akkordeon durch die Kneipen. Er wird abfällig behandelt. Eine Gesinnungswandlung beim alten Vater setzt erst ein, als er erfährt, dass Viktor zum Direktor einer Sparte des Elektrizitätswerkes ernannt worden ist. Auf einmal stellt der eine wichtige Persönlichkeit dar.
Und da ist der Bettler Chleboun, der rastlos durch die Straßen der Stadt streift und alles hört und alles sieht. Der Leser wird Zeuge der Monologe, die er mit sich selbst führt, in denen er den Zustand der Welt verurteilt und selbstgerecht seine eigene Bescheidenheit preist.
Große Aufregung herrscht in der Stadt, als der Herr Abgeordnete sich wieder einmal die Ehre gibt und sich leutselig und seiner eigenen Wichtigkeit bewusst der Sorgen der Bürger annimmt, dabei aber nichts anderes als die nächste Wahl im Kopf hat.
Das unterscheidet diese scheinbar so ferne Zeit gar nicht mal so sehr von der heutigen, möchte man meinen, vor allem auch, wenn es um die Anfälligkeit von Antisemitismus und Verschwörungstheorien geht. Das bringt Poláček in schöner, poetischer Sprache, die ihren Stachel aber keineswegs verbergen möchte, zum Ausdruck: „Die Seele des Volkes gleicht einem gewissen Kraut, das nur nachts zu blühen pflegt. Diese Blüte welkt unter den glühenden Strahlen des Verstandes und öffnet ihren Kelch begierig jedem Irrglauben.“
Im letzten Kapitel verfolgt die Gemeinschaft ein Theaterstück auf der Waldbühne außerhalb der Stadt, in das plötzlich die Nachricht vom Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo platzt. Jeder weiß instinktiv, dass von nun an nichts mehr so sein wird, wie es wahr, dass alles, was eben noch von Wert war, seine Bedeutung sehr schnell verlieren wird.
Das Leben von Karel Poláček, der jüdischer Abstammung ist, fand ein tragisches Ende. Im Oktober 1944 wurden er und seine Lebensgefährtin Dora Vaňáková vom KZ Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. Dora Vaňáková landete sofort in der Gaskammer. Als während des Vormarsches der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz aufgelöst wird, wurde Poláček, der nicht transportfähig war, auf dem Todesmarsch von der SS erschossen.