Posted by: eleucht | 21. September 2023

„Requiem“ – Karl Alfred Loeser

Die Bücher, über die ich schreibe oder die ich rezensiere, wurden von mir gekauft. Es gibt keinerlei geschäftliche oder anders geartete Beziehungen zu den Verlagen, Verlagsgesellschaften oder Autoren.

Am Anfang war der Hass. Der Hass des Unbegabten.

Der nicht besonders talentierte Cellospieler Fritz Eberle, der Sohn eines Bäckermeisters, bekommt während eines Konzerts, in dem noch weniger begabte Schüler einer Musikschule auftreten, den meisten Applaus. Der Junge, der sonst kaum Anerkennung von Freunden und Familie erfährt, glaubt sich daraufhin zu Höherem berufen. Dabei wird er von seiner Familie, die vorher in ihm nur einen hoffnungslosen Fall sah, bestärkt. Nach dem zweifelhaften Erfolg ist Fritz Eberle der Meinung, er könnte den Platz des Cellisten im städtischen Orchester beanspruchen. Den allerdings hält der Star des Ensembles, der Solocellist und Schöngeist Erich Krakau.

In Deutschland hat eine neue Zeit begonnen, in der eine völkische Weltanschauung und eine frühe Mitgliedschaft in der Ortsgruppe der SA gewichtigere Argumente für eine Anstellung sein sollten als Talent. Und Erich Krakau ist Jude.

Es ist erschreckend, mitzuverfolgen, wie der unbedeutende und untalentierte Fritz Eberle etwas in Gang setzt, um den begehrten Platz im Orchester zu bekommen. Sein klägliches Vorspielen bei eben jenem Krakau entlarvt Eberle als Dilettanten. Dafür erfährt er Hilfe von einem abgetakelten und zwielichtigen Journalisten, der in Fritz Eberle eine Möglichkeit sieht, wieder zu Geld und Anerkennung in der Branche zu kommen. Seine persönlichen Interessen an der Sache schließen auch Erich Krakaus schwangere Frau ein, von deren Moral und Integrität er sich gedemütigt fühlt.

Die SA-Schläger und Freunde von Fritz Eberle sehen ihre Chance gekommen, als sie während eines Konzertes am Theater gegen Erich Krakau pöbeln und mit Gewalt nicht nur drohen. Der wendige Journalist sorgt dafür, dass Erich Krakau zu dessen eigener Sicherheit von der Polizei in Schutzhaft genommen wird.

Da sich der Einfluss der Nationalsozialisten auch auf die Polizei erstreckt, ist natürlich gar nicht geplant, dass die Haft von Erich Krakau je wieder ein Ende finden soll. Er landet zusammen mit Schicksalsgefährten im sogenannten Judenkäfig, der vom normalen Gefängnis separiert ist. Interessierte Kreise ermitteln fieberhaft, um dem unbescholtenen Cellisten ein Vergehen nachweisen zu können. Das gelingt schließlich dem inzwischen erfolgreich gewordenen Journalisten während eines Besuches bei Krakaus Ehefrau. Er entwendet einen Brief, der Krakau schwer belasten wird.

Im Roman kommt Krakau dank guter Freunde im Orchester und eines Gauleiters, der neben Vaterlandsliebe und Gehorsam gegenüber dem Staat auch noch Ehre im Leib verspürt, wieder frei, zusammen mit seiner Frau gelingt es ihm, das Land zu verlassen.

Es ist beklemmend, wenn man beim Lesen des Romans, dessen Handlung in einer Zeit angesiedelt ist, die man eigentlich überwunden glaubte, ständig ähnliche Entwicklungen in der Gegenwart erkennt, sei es die weit verbreitete Wissenschaftsfeindlichkeit, die Impfen zu Teufelswerk erklärt, oder wie sich völkisches und rassistisches Gedankengut immer mehr im Bürgertum ausbreitet, wie Vertreter anderer Meinungen niedergebrüllt werden, wie Schlägertrupps Angst und Schrecken in der Gesellschaft verbreiten, bis niemand mehr wagt, seine eigene Meinung auch nur zu äußern.

Am Ende des Romans machen sich die Freunde Erich Krakaus, der Kapellmeister und der Intendant, Gedanken über den Weg, den Deutschland eingeschlagen hat: „Und was wird geschehen, wenn der letzte Funken Geist in diesem Land ausgelöscht, der letzte aufrechte Mann ausgewandert sein wird? Dann wird man wahrscheinlich ein Siegesfest feiern und, endlich unter sich, ungestört von jeder Intelligenz, einen Militärmarsch blasen.“

Niemand weiß genau zu sagen, wie viel Autobiografisches in diesen Roman eingeflossen ist, auf jeden Fall hat der Autor darin seine Erfahrungen – und wahrscheinlich die seines Bruders Norbert, der ein Musiker war – zu Papier gebracht. Karl Alfred Loeser hat Deutschland 1934 verlassen und ist nach Brasilien ausgewandert. Dort arbeitete er viele Jahre in einer Bank in São Paulo. Das Manuskript dieses Werkes wurde niemals veröffentlicht. Dass es den Weg zu Klett-Cotta fand und der Roman das Licht der Welt erblickte, ist Loesers Urgroßenkel Felipe Provenzale zu verdanken.


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