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Wenn dieser Roman ein Musikstück wäre, dann wohl ein langes, vielschichtiges, psychedelisches Prog-Rock-Opus mit vielen überraschenden Tempo-, Tonart-, Harmonie- und Rhythmuswechseln, so etwas wie das „Supper’s Ready“ der Literatur.
Das wäre insofern auch ein passender Vergleich, da der Protagonist der Geschichte nach eigener Aussage in den 70er Jahren mit Rock und Prog Rock sozialisiert wurde. Das Buch ist tatsächlich voller Musik. Sie taucht immer wieder in verschiedenen Variationen auf und bestimmt so manche Entwicklung. Dabei ist das wirklich alles andere als ein Roman für Musikliebhaber. Vielleicht, so mein Eindruck, muss man tatsächlich einer bestimmten Generation angehören, um den Zusammenhang von Musik, speziell Rockmusik, und gesellschaftlicher Entwicklung richtig einordnen zu können.
Juri Andruchowytsch schreibt über die gesellschaftliche Entwicklung seines Landes. Er stammt aus der Ukraine. Das Wort Ukraine taucht in dem Roman genauso wenig auf wie der Name der Hauptstadt Kiew. Nichts wird direkt ausgesprochen, doch das Hauptthema der Romans ist an jeder Stelle offensichtlich. Die sogenannte Revolution findet auf dem Poshtova statt. Der zentrale Postplatz befindet sich in Kiew. Könnte man wissen, muss man aber nicht. Die Handlung beschwört beim Leser auch so die Erinnerung an den Maidan herauf.
Josip Rotsky ist Musiker, er spielte in einer Band die Keyboards. Nach der Auflösung der Band tingelte er als Pianist auf Kreuzfahrtschiffen. Die Revolution bringt die Musiker wieder zusammen, es gibt eine Reunion. Da geschieht etwas, wovon sie stets geträumt hatten, da müssen sie einfach dabei sein. Doch erste Risse in der Band sind nicht zu übersehen, zu unterschiedlich haben sich die Musiker entwickelt.
Auf dem Höhepunkt der Revolution zieht sich Josip Rotsky eine Strumpfmaske übers Gesicht, er wird bekannt unter dem Namen Aggressor. Auf dem Barrikaden, hinter denen sich die Menschen vor der Staatsmacht schützen, spielt er auf alten, ausrangierten Pianos Lennon’s „Imagine“. Immer wieder, überall. Die Staatsmacht ist hinter ihm her, er muss fliehen. Es folgt eine abenteuerliche Reise quer durch Europa, er wird begleitet von der abtrünnigen Geheimdienstagentin Anime.
Der Roman bringt die Figur des Josip Rotsky dem Leser auf mehreren Ebenen nahe. Da sind zum einen die Moderationen des Josip Rotsky über seinen Radiosender auf einer abgelegenen Insel während einer Dezembernacht, in denen er zu seinen Hörern auf der ganzen Welt über sein Leben spricht. Jede Moderation wird mit einem Musikstück beendet, das die Hörer durch die Nacht begleitet. Und zum anderen ist da der namenlose Biograf, der für eine imaginäre Biografengesellschaft das Leben des Josip Rotsky zu ergründen versucht. Er folgt den Spuren des Mannes durch halb Europa. Der Autor des Romans spielt dabei mit verschiedenen Stilmitteln. Da wird die Geschichte plötzlich als ein Theaterstück in mehreren Akten fortgesetzt, an anderer Stelle wird die Flucht von Rotsky und Anime in das Mittelalter verlegt. So bleibt alles im Vagen, das Eindeutige bleibt unter dieser Oberfläche trotzdem deutlich sichtbar. Auch an Reminiszenzen fehlt es nicht. Nicht alle sind so eindeutig wie der Rabe, der zu einem Begleiter von Rotsky wird und dem er den Namen Edgar gibt. Für ihn ist Edgar Hugin und Munin, Gedanke und Gedächtnis, in Einem.
In diesem wortgewaltigen Roman vermischen sich Elemente der Fantasy mit einer Liebesgeschichte und einer fiktiven Biografie, am Ende mündet alles in einen rasanten Thriller.
„Wenn Gott unser Vater ist, dann ist der Teufel unser Busenfreund.“ Mit diesem Satz beginnt der Roman. Das Sinnbild des Vaters, der unantastbar über allem steht, und des Freundes, der zum Verräter wird, verfolgt den Protagonisten durch die gesamte Handlung.
Die Originalausgabe des Romans erschien bereits 2021, und trotzdem spürt der Leser in den Zeilen bereits die Gefahr, die über Land und Leuten schwebt und die am 24. Februars dieses Jahres blutige Realität wurde. Das Gefühl der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit aus einem menschenfeindlichen System wird man so schnell nicht wieder los.