Judas der Iskariot – seit über zweitausend Jahren folgt ihm der Ruf des Verräters. Er zieht sich durch die ganze Kulturgeschichte und begegnet uns in vielfältiger Form bis hin zum Sujet des Judaskusses in der bildenden Kunst. In einem Roman, den ich kürzlich las, machte der Autor Judas sogar zum Stammvater der Vampire. Man scheint geneigt, ihn für alles Böse auf der Welt verantwortlich zu machen.
Doch ist dem wirklich so? Nicht erst seit der Entdeckung der Fragmente des sogenannten Judas-Evangeliums kamen Zweifel an der Rolle des Judas auf. Vieles an der bekannten Geschichte scheint, gelinde ausgedrückt, nicht wirklich schlüssig zu sein, von Logik gar nicht zu reden. Wieso musste Judas den Herrn ausgerechnet durch einen Kuss verraten? Wieso hatte Jesus, der sich nach seinem Einzug in Jerusalem nicht versteckt hatte, sondern sehr offen aufgetreten ist, überhaupt verraten werden müssen? Und welchen Grund hätte Judas gehabt, das zu tun? Der dreißig Silberlinge wegen? Die fortan Symbolcharakter für den Verrat an sich bekamen? Judas hütete und verwaltete die Kasse von Jesus und seinen Jüngern. Er hätte sich damit nur aus dem Staub machen brauchen. Während des Abendmahls bei Nikodemus lässt Jesus verlauten, dass man ihn noch vor dem Morgengrauen verraten wird. Was wären das für Freunde, die nicht alles tun würden, um ihn vor diesem Schicksal zu bewahren?
Gerald Messadié hat diese Thematik in einem belletristischen Werk verarbeitet und sich dabei verschiedener Quellen bedient. Die agierenden Figuren, nicht weniger als die Begründer einer Weltreligion, werden glaubwürdig und bildhaft geschildert und wirken sehr menschlich, sind durchaus auch mit Fehlern behaftet und verletzlich. Der Autor lässt anklingen, dass Jesus verheiratet ist, wenn auch nicht mit Maria Magdalena, die zweifellos das Potential für großartige Geschichten hätte. Nicht zuletzt vertritt Jesus in der Geschichte die Auffassung, dass der Gott des alten Testaments, der Schöpfer, ein kalter, gefühlloser Gott ist, den man nicht mit Jahwe, dem menschenliebenden Gott gleichsetzen darf.
Als Jesus in Jerusalem einzieht, feiert man ihn wie König David. Er wirft die Geldwechsler und Händler aus dem Tempel und predigt sein Wort Gottes. Er hat genaue Vorstellungen von dem, was er will, er möchte nicht der König sein, den die Menschen haben, er möchte der König sein, den die Menschen zukünftig erwarten. Da haben der Hohepriester Kaiphas und sein Schwiegervater Annis Jesus’ Tod längst beschlossen und sich der Rückendeckung des römischen Statthalters Pontius Pilatus versichert.
Judas ist der beste und treueste Freund von Jesus. In der Wüste – in der Jesus eine Zeit lang mit der später der Häresie bezichtigten Sekte der Essener zusammenlebte – wird auch ihm die Offenbarung zuteil. Ihm fällt das schwere Los zu, den Herrn an Kaiphas und die römischen Besatzer auszuliefern. Nur seinen besten und vertrautesten Freund kann Jesus mit dieser Aufgabe betrauen, auch wenn es Judas dabei fast das Herz zerreißt. Er kämpft mit Selbstzweifeln und Selbstvorwürfen – wird am Ende aber den schweren Weg gehen. Ihm bleibt die Hoffnung, dass Gott seinen Sohn niemals sterben lassen und seine wahre Macht zeigen wird. Im Augenblick des vermeintlichen Verrats küsst nicht er Jesus, Jesus küsst ihn, zum Abschied.
Die Geschichte nimmt den bekannten Verlauf.
Als Jesus von vertrauten Freunden wie Nikodemus und Josef von Arimathäa vom Kreuz genommen wird, lebt er noch. Um der Überwachung durch den Tempel zu entgehen, bringen sie ihn geschwind zur Grabstätte auf dem Ölberg. Später geht er außer Landes – in Jerusalem entwickelt sich, auch dank der Spione von Kaiphas und Annis, die Legende von der Auferstehung. Der vereinsamte Judas wird später von fanatischen Anhängern des Jesus-Kultes ermordet und aufgeschlitzt werden – man lässt es wie Selbstmord aussehen.
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